Donnerstag, 4. Oktober 2012

Machwerk R.W. Aristoquakes
   Teil 10 - 376
  Märchenerzähler im Olymp

Auch Otos der Riese musste nun
(Ilias 5/385; Sohn des Aloeus, Riese, sperrte mit
Hilfe seines Bruders Ephialtes den Ares ein)
Etwas für die andern tun.
Er las dem Heroen-Seelen-Korps
Die Mähr von Däumelinchen vor.


Däumelinchen
[von Hans Christian Andersen]


Es war einmal eine Frau, die sich ein kleines Kind wünschte. Aber sie wusste nicht, woher sie es bekommen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte ihr: "Ich möchte gerne ein kleines Kind haben. Willst du mir nicht sagen, woher ich das bekommen kann?" "Ja, damit wollen wir schon fertig werden!", sagte die Hexe. "Hier hast du ein Gerstenkorn, das nicht auf dem Felde des Bauern wächst oder von den Hühnern gefressen wird. Lege das Gerstenkorn in einen Blumentopf, und du wirst etwas zauberhaftes zu sehen bekommen!" "Ich danke dir!", sagte die Frau und gab der Hexe fünf Groschen.

Dann ging sie nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs eine herrlich große Blume daraus hervor. Sie sah aus wie eine Tulpe, und die Blätter schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.

"Das ist eine hübsche Blume!", sagte die Frau und küsste sie auf die roten und gelben Blätter. Aber gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Blume mit einem Knall. Es war wirklich eine Tulpe, wie man nun sehen konnte, doch mitten in der Blume saß ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich. Es war nicht größer als ein Daumen, und darum wurde es Däumelinchen genannt.

Däumelinchen bekam nun eine lackierte Walnussschale als Wiege. Veilchenblätter waren ihre Matratze und ein Rosenblatt ihr Bettdecke. So schlief sie bei Nacht, aber am Tage spielte sie auf dem Tisch. Die Frau stellte ihr einen Teller mit Wasser hin und legte einen ganzen Kranz Blumen darum, sodass die Stängel ins Wasser ragten. Nun konnte Däumelinchen auf einem Tulpenblatt sitzen und von der einen Seite des Tellers zur anderen fahren. Sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum Rudern. Dabei sang sie so fein und zart, wie man es nie gehört hatte. Das war wirklich wundervoll.

Eines Nachts, als Däumelinchen in ihrem schönen Bettchen lag, kam eine Kröte durch eine zerbrochene Fensterscheibe hereingehüpft. Die Kröte war hässlich, groß und nass. Sie hüpfte geradewegs auf den Tisch, wo Däumelinchen unter dem Rosenblatt schlief. "Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!", dachte die Kröte. Sie nahm die Walnussschale, in der Däumelinchen schlief, und hüpfte durch die zerbrochene Scheibe in den Garten zurück.







Am Ende von dem Garten war ein großer, breiter Fluss. Aber das Ufer war feucht und morastig. Hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war genau so hässlich wie seine Mutter. "Koax, koax, brekerekex!" Das war alles, was er sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Walnussschale erblickte.

"Sprich nicht so laut, sonst wird sie wach", flüsterte die alte Kröte. "Sie könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir wollen sie in der Mitte des Flusses auf ein Seerosenblatt setzen. Dann hat sie ihre eigene Insel und kann nicht davonlaufen, während wir unsere morastige Stube instand setzen." Die alte Kröte nahm die Nussschale und brachte sie hinaus auf das größte Seerosenblatt im Flusse.

Däumelinchen erwachte am frühen Morgen und sah sich um. Da fing sie bitterlich an zu weinen, denn überall war Wasser, und sie konnte gar nicht an Land kommen. Die alte Kröte saß derweil am Ufer im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben Blumen aus. Es sollte ja recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden.

Dann schwamm die Kröte mit dem hässlichen Sohne zu dem Blatte, wo Däumelinchen stand. Sie wollten ihr hübsches Bettchen holen, das schon im Brautgemach stehen sollte, wenn Däumelinchen es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich vor ihr und sagte: "Hier siehst du meinen Sohn. Er wird dein Mann sein, und ihr werdet prächtig dort unten im Moraste wohnen!" "Koax, koax, brekerekex!" Das war alles, was der Sohn sagen konnte.

Dann nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen zum Ufer zurück. Däumelinchen aber saß ganz alleine und weinte, denn sie mochte nicht bei der hässlichen Kröte wohnen und ihren Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, die unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen und auch gehört, was sie sagte. Deshalb streckten sie die Köpfe empor, um das kleine Mädchen zu sehen. Sie fanden es sehr niedlich und bedauerten, dass es zur hässlichen Kröte ziehen sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im Wasser rings um den Stängel, der das Seerosenblatt von Däumelinchen hielt. Dann nagten sie gemeinsam den Stiel ab, und das Blatt schwamm den Fluss hinab, weit weg, wo die Kröte nicht mehr hingelangen konnte.

Däumelinchen segelte nun an vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen und sangen: "Welch liebliches, kleines Mädchen!" Das Blatt schwamm immer weiter und weiter fort, und Däumelinchen reiste bis über die Grenzen des Landes.


Ein hübscher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf das Blatt nieder. Jetzt konnte die Kröte Däumelinchen nicht mehr erreichen, und die Sonne schien so schön auf das Wasser, das es wie pures Gold glänzte. Da nahm Däumelinchen ihren Gürtel, band das eine Ende an den Schmetterling und das andere an das Blatt. So ging die Fahrt nun viel schneller voran.

Bald darauf kam ein großer Maikäfer geflogen. Der erblickte Däumelinchen, schlug seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne Blatt schwamm weiter den Fluss hinab und der Schmetterling hing immer noch daran, denn er war ja an das Blatt gebunden und konnte sich nicht selber befreien. Betrübt schaute Däumelinchen dem schönen, weißen Schmetterling nach, denn sie hätte ihn gerne befreit.

Darum kümmerte sich der Maikäfer aber nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte Blatt des Baumes und sagte, dass sie wahrhaft niedlich sei, obwohl sie einem Maikäfer nicht sehr ähnlich sei. Später kamen auch die anderen Maikäfer herbei, die im Baume wohnten. Sie betrachteten Däumelinchen, und eine Maikäferfrau sagte: "Sie hat nur zwei Beine. Das sieht erbärmlich aus." "Und sie hat auch keine Fühler!", sagte eine andere. "Sie ist in der Mitte so schlank. Pfui, sie sieht ja wie ein Mensch aus!"

Und doch war Däumelinchen so niedlich anzusehen. Das sagte jedenfalls der Maikäfer, der sie geraubt hatte. Als die anderen aber immer wieder sagten, das kleine Geschöpf sei hässlich, glaubte auch er es zuletzt und wollte sie nicht mehr haben. Däumelinchen durfte gehen, wohin sie wollte.
Den ganzen Sommer über lebte Däumelinchen nun alleine in dem großen Wald. Sie flocht sich ein Bettchen aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatt auf. So war sie wenigstens vor dem Regen geschützt. Däumelinchen aß das Süße von den Blumen und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer und Herbst.

Doch dann kam der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön gesungen hatten, flogen davon. Bäume und Blumen verdorrten, und das große Klettenblatt, unter dem sie gewohnt hatte, schrumpfte zusammen. Es blieb nichts als ein gelber, verwelkter Stängel zurück. Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei. Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, drückte sie zu Boden.

Dicht vor dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld. Das Korn war schon lange abgeschnitten. Nur die nackten Stoppeln ragten noch aus der gefrorenen Erde hervor. Für Däumelinchen waren sie wie ein großer Wald, den sie durchwandern musste, und sie zitterte doch so vor Kälte!

Da gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den Kornstoppeln hatte. Die Feldmaus wohnte warm und gut, hatte eine herrliche Küche und eine Speisekammer voll Korn. Däumelinchen stellte sich in die Tür, gerade wie jedes andere Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück Gerstenkorn, denn sie hatte seit Tagen nichts gegessen

"Du kleines Wesen!", rief die Feldmaus. "Komm herein in meine warme Stube und iss mit mir! Du kannst auch den Winter über bei mir bleiben, aber du musst meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn das liebe ich sehr."

Däumelinchen tat, was die alte Feldmaus verlangte, und hatte es nun wirklich gut. Einige Tage später sagte die Feldmaus: "Wir werden bald Besuch erhalten. Mein Nachbar pflegt mich jede Woche zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich, hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum Manne nimmst, bist du gut versorgt. Da macht es dann auch nichts, dass er so gut wie blind ist. Du musst ihm aber hübsche Geschichten erzählen, wenn er kommt!"

Däumelinchen wollte davon nichts wissen. Sie mochte den Nachbarn gar nicht haben, denn er war ein Maulwurf. Der kam dann auch in seinem schwarzen Samtpelz zu Besuch. Er war sehr gelehrt, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er nicht leiden. Dafür hatte er nur schlechte Worte übrig, denn er hatte sie noch nie gesehen. Von Däumelinchen wünschte er sich nun ein paar Lieder. Da sang sie "Maikäfer flieg" und "Wer will unter die Soldaten". Der Maulwurf hörte ihre schöne Stimme und war sogleich verliebt. Er sagte es aber nicht, denn er war ein besonnener Herr.

Es war noch nicht lange her, da hatte der Maulwurf einen langen Gang durch die Erde gegraben, der von seinem Hause aus bis zur Unterkunft der Feldmaus führte. Die Feldmaus und Däumelinchen bekamen nun die Erlaubnis, darin spazieren zu gehen, soviel sie wollten. Aber sie sollten sich nicht vor dem toten Vogel fürchten, der in dem Gange lag. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der erst kürzlich gestorben und begraben worden war, gerade da, wo der Maulwurf seinen Gang gemacht hatte.

Der Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmert ja wie Feuer im Dunkeln. Er ging voran und leuchtete auf dem Wege. Als sie zu dem toten Vogel kamen, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und stieß die Erde auf, sodass es ein großes Loch gab und das Licht hindurchscheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe. Die schönen Flügel waren fest an die Seite gedrückt, und die Füße und der Kopf unter die Federn gezogen. Der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben.

Das tat Däumelinchen nun sehr Leid. Sie mochte all die kleinen Vögel, denn sie hatten ja den ganzen Sommer über so schön gesungen und gezwitschert. Aber der Maulwurf stieß den toten Vogel mit seinen kurzen Beinen und sagte: "Nun pfeift er nicht mehr. Es muss doch erbärmlich sein, als Vogel geboren zu werden! Außer seinem "Quivit" hat dieser Vogel ja nichts und muss im Winter sogar verhungern!" "Ja", erwiderte die Feldmaus, "das ist erbärmlich."

Däumelinchen sagte gar nichts, aber als die beiden anderen sich umdrehten, ging sie zu dem Vogel, schob die Federn beiseite und küsste ihn auf die geschlossenen Augen. "Vielleicht war er es ja", dachte sie, "der so hübsch für mich im Sommer gesungen hat." "Wie viel Freude hat er mir gegeben!"

Der Maulwurf stopfte nun das große Erdloch zu und begleitete die anderen nach Hause. Aber in der Nacht konnte Däumelinchen gar nicht schlafen. Da stand sie auf und flocht aus Heu einen großen, schönen Teppich. Den trug sie zu dem Vogel, breitete ihn aus und legte auch noch weiche Baumwolle darauf, die aus der Stube der Feldmaus stammte. Dann rollte sie den toten Vogel auf den Teppich, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.

"Lebe wohl, du schöner, kleiner Vogel", sagte Däumelinchen. "Lebe wohl und habe Dank für deinen herrlichen Gesang!" Sie legte ein letztes Mal ihr Haupt an die Brust des Vogels. Doch horche! - Es war gerade so, als ob das Herz des Vogels wieder klopfte. Der Vogel war gar nicht tot, er lag nur betäubt da. Jetzt, wo er auf dem warmen Teppich war, rührte sich wieder Leben in ihm.

Was war nur geschehen? - Nun, im Herbst fliegen alle Schwalben in die warmen Länder nach Süden. Verspätet sich aber eine, muss sie frieren, bis sie totengleich niederfällt und liegen bleibt. Dann kann der kalte Schnee sie bedecken.

Däumelinchen erschreckte sich sehr, denn der Vogel war ja viel größer als sie selbst. Trotzdem legte sie die Baumwolle dichter um die Schwalbe, damit der Vogel es noch angenehmer hatte. In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm hin, da öffnete die Schwalbe kurz die Augen. "Ich danke dir, du kleines Kind", sagte sie. "Die Wärme hat mir gut getan. Bald komme ich zu Kräften und kann dann wieder draußen in der warmen Sonne umherfliegen!"

"Oh", sagte Däumelinchen, "es schneit und friert noch da draußen. Bleib in deinem warmen Bettchen, ich werde dich auch pflegen!" Sie brachte der Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt und fragte, was geschehen sei. Da erzählte die Schwalbe, wie sie kurz vor dem Vogelzug eine Dornbusch mit dem Flügel gestreift hatte. Sie sei zur Erde gestürzt und wüsste von da ab auch nicht, wie sie unter die Erde gekommen war.

Den ganzen Winter über blieb sie nun da unten. Däumelinchen pflegte sie und hatte sie lieb. Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die arme Schwalbe ohnehin nicht leiden.

Sobald das Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, stieß die Schwalbe mit dem Schnabel die Erde auf. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein, und die Schwalbe fragte Däumelinchen, ob sie mitkommen wolle. "Nein, ich kann nicht", sagte Däumelinchen, denn sie wollte die alte Feldmaus nicht verlassen. "Dann lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen", sagte die Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie hatte die Schwalbe von Herzen gerne. "Quivit, quivit!", sang der Vogel und flog zum grünen Wald davon.

Däumelinchen war nun recht betrübt. Es war ihr untersagt, in den warmen Sonnenschein hinauszugehen. Das Korn, das über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch schon hoch in die Luft empor. Es stand in dichten Reihen und war wie ein dichter Wald für das arme, kleine Mädchen.

"Nun solltest du aber deine Aussteuer für die Hochzeit nähen", sagte die Feldmaus zu Däumelinchen. Der Maulwurf hatte nämlich um ihre Hand angehalten. Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier Raupen, die Tag und Nacht für sie webten. Jeden Abend besuchten sie den Maulwurf, und er sprach immerzu: "Wenn der Sommer vorbei sei, dann wollen Hochzeit halten."

Däumelinchen war darüber gar nicht erfreut, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht leiden. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie unterging, schlich sie zur Tür hinaus. Wenn dann der Wind durch die Kornähren rauschte, konnte sie den blauen Himmel erblicken und dachte daran, wie hell und schön es hier doch war. Und sie wünschte sich sehnlichst, die liebe Schwalbe wiederzusehen.

Als es nun Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer beisammen. "In vier Wochen ist die Hochzeit", sagte die Feldmaus. Aber Däumelinchen weinte nur und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben. "Schnickschnack!", rief die Feldmaus. "Sei nicht undankbar! Außerdem hat der Maulwurf eine große Küche und einen vollen Keller. Was kann man mehr erwarten?"

Nun sollte also die Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, um Däumelinchen zu holen. Sie sollte tief unter der Erde bei ihm wohnen. Das arme Kind war sehr betrübt. "Lebe wohl, du helle Sonne!", rief Däumelinchen und lief noch ein letztes Mal auf das Feld vor dem Hause der Feldmaus. Das Korn war schon geerntet, und es standen nur noch Stoppeln da. "Lebe wohl!", rief Däumelinchen und schlang ihre Arme um eine kleine rote Blume. "Grüße die kleine Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!"

"Quivit, quivit!", ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe. Sie sah empor, und es war die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam. Däumelinchen erzählte ihr, wie ungern sie den Maulwurf zum Manne nehmen wolle, und dass sie tief unter der Erde wohnen solle, wo es keine Sonne gebe.
Da sagte die kleine Schwalbe: "Nun, ich fliege bald fort in die warmen Länder. Willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich mit deinem Gürtel fest, dann fliegen wir in ein Land, wo Sommer ist und herrliche Blumen blühen. Fliege nur mit, mein kleines Däumelinchen!" "Ja, dieses Mal werde ich mit dir kommen!", sagte Däumelinchen fest entschlossen, setzte sich auf den Rücken der Schwalbe und band sich fest.

Hui, wie der Wind sauste die Schwalbe hoch in die Lüfte. Sie flog über Wälder und Seen, und über die großen Berge, wo das ganze Jahr über Schnee liegt. Däumelinchen fror in der kalten Luft, aber sie verkroch sich geschwind unter den warmen Federn der Schwalbe und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die Schönheiten unter sich zu betrachten.

So kamen sie dann auch glücklich in die warmen Länder. Dort schien die Sonne viel klarer als hier. Der Himmel war zweimal so hoch, und an den Gräben und Hecken wuchsen die schönsten Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, und es duftete nach Myrte und Minze. Auf den Landstraßen liefen die niedlichsten Kinder und spielten mit großen, bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog noch weiter, und es wurde schöner und schöner. An einem blauen See stand ein weißes Marmorschloss aus alten Zeiten, das mit herrlich grünen Bäumen umstanden war. Weinreben rankten sich an den hohen Marmorsäulen empor, und ganz oben waren viele Schwalbennester. Dort wohnte auch die Schwalbe, die Däumelinchen trug.

"Hier ist meine zweite Heimat", sagte die Schwalbe zu Däumelinchen. "Aber willst du dir nicht selbst eine prächtige Blume da unten suchen? Komm, ich werde dich hinbringen, und du sollst es so gut und schön haben, wie du es dir wünschst!" "Das ist herrlich!", sagte Däumelinchen und klatschte vor Freude in die Hände.
Ganz in der Nähe war auch eine große, 
weiße Marmorsäule, die zu Boden gefallen und in drei Stücke gesprungen war. Dazwischen wuchsen wundevolle weiße Blumen. Die Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf ein Blatt. Däumelinchen glaubte zu träumen. - Da saß ein kleiner Mann mitten auf der Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er aus Glas. Er trug eine kleine Goldkrone auf dem Kopfe und hatte herrlich klare Flügel an den Schultern. Er war nicht größer als Däumelinchen, und er war der König der Blumenelfe, die überall in den Blumen wohnten.

"Gott, wie ist er schön", flüsterte Däumelinchen. Der kleine Prinz erschrak sehr über die Schwalbe, denn sie erschien ihm wie ein Riesenvogel. Als er aber Däumelinchen erblickte, war er sehr entzückt. Sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte, darum nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie ihr auf. Dann fragte er, wie sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle. Ja, das war ein anderer Mann als der Sohn der Kröte oder der Maulwurf. Däumelinchen überlegte nicht lange und gab dem herrlichen Prinzen ihre Hand.

Nun kamen alle Elfen aus den Blumen, egal ob Mann oder Frau, und sie brachten Däumelinchen schöne Geschenke. Das Beste waren aber die Flügel von einer großen, weißen Fliege. Sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, worauf sie von Blume zu Blume fliegen konnte.

"Von nun an sollst du nicht mehr Däumelinchen heißen!", sagte der Blumenelf zu ihr. "Wir wollen dich Maja nennen." Da gab es viel Freude, und die Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang, so gut sie es eben konnte. Aber im Herzen war sie doch betrübt, denn sie wäre gerne mit Däumelinchen zusammen geblieben.

"Lebe wohl, lebe wohl!", rief die kleine Schwalbe bald und machte sich wieder auf die lange Reise. Denn es war Zeit für die andere Heimat, weiter oben im Norden. Dort hatte die Schwalbe auch ein kleines Nest, und zwar mitten über dem Fenster, wo der Mann wohnt, der die schönsten Märchen erzählt.

wird fortgesetzt

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Zur Einstimmung

Bei dem hier unter dem Pseudonym R.W. Aristoquakes virtuell zur Veröffentlichung gebrachten, mehr als einhundertfünfzigtausend Doppelverszeilen umfassenden und mit über 15.000 Zeichnungen versehenen Epos handelt es sich um die umfangreichste Nacherzählung des Homer zugeschriebenen Kriegsberichtes, die jemals niedergeschrieben wurde und nach Auffassung des Autors, um das wichtigste literarische Werk der Neuzeit überhaupt.

Unter dem oben abgedruckten Titel veröffentlicht der noch unbekannte Schriftsteller an dieser Stelle in den nächsten fünf Jahren sein als Fortsetzungeerzählung entstandenes Mammutmachwerk über den antiken Tierkrieg und dessen Folgen für die Menschheit.

Das über zweitausend Jahre alte homerische Epillion, das im Original nur etwa 300 Verszeilen umfasst, wurde von R.W. A., der zehn Jahre lang daran gearbeitet hat, zu einem Mammutwerk aufgebläht, das die Batrachomyomachia mit der Ilias und der Bibel verbindet.

Diese Verknüpfung der drei wichtigsten Werke der abendländischen Literatur, die in etwa zur gleichen Zeit entstanden sind, dient dem Autor dazu, seine religionsgeschichtliche These zu untermauern, in der er den Frosch als Ursprungsgottheit darstellt und behauptet, dass die Götter der Neuzeit nichts anderes sind als die konsequente Weiterentwicklung der ägyptischen Froschgötter.