Machwerk
R.W. Aristoquakes
Teil 10 - 376
Märchenerzähler
im Olymp
Auch Otos der Riese musste nun
(Ilias 5/385; Sohn des Aloeus, Riese, sperrte mit
Hilfe seines Bruders Ephialtes den Ares ein)
Etwas für die andern tun.
Er las dem Heroen-Seelen-Korps
Die Mähr von Däumelinchen vor.
Däumelinchen
[von Hans Christian
Andersen]
Es war
einmal eine Frau, die sich ein kleines Kind wünschte. Aber sie wusste nicht,
woher sie es bekommen sollte. Da ging sie zu einer alten Hexe und sagte ihr:
"Ich möchte gerne ein kleines Kind haben. Willst du mir nicht sagen, woher
ich das bekommen kann?" "Ja, damit wollen wir schon fertig
werden!", sagte die Hexe. "Hier hast du ein Gerstenkorn, das nicht
auf dem Felde des Bauern wächst oder von den Hühnern gefressen wird. Lege das
Gerstenkorn in einen Blumentopf, und du wirst etwas zauberhaftes zu sehen
bekommen!" "Ich danke dir!", sagte die Frau und gab der Hexe
fünf Groschen.
Dann ging
sie nach Hause, pflanzte das Gerstenkorn, und sogleich wuchs eine herrlich
große Blume daraus hervor. Sie sah aus wie eine Tulpe, und die Blätter
schlossen sich fest zusammen, gerade als ob sie noch in der Knospe wären.
"Das
ist eine hübsche Blume!", sagte die Frau und küsste sie auf die roten und
gelben Blätter. Aber gerade in diesem Augenblick öffnete sich die Blume mit
einem Knall. Es war wirklich eine Tulpe, wie man nun sehen konnte, doch mitten
in der Blume saß ein ganz kleines Mädchen, fein und niedlich. Es war nicht
größer als ein Daumen, und darum wurde es Däumelinchen genannt.
Däumelinchen
bekam nun eine lackierte Walnussschale als Wiege. Veilchenblätter waren ihre
Matratze und ein Rosenblatt ihr Bettdecke. So schlief sie bei Nacht, aber am
Tage spielte sie auf dem Tisch. Die Frau stellte ihr einen Teller mit Wasser
hin und legte einen ganzen Kranz Blumen darum, sodass die Stängel ins Wasser
ragten. Nun konnte Däumelinchen auf einem Tulpenblatt sitzen und von der einen
Seite des Tellers zur anderen fahren. Sie hatte zwei weiße Pferdehaare zum
Rudern. Dabei sang sie so fein und zart, wie man es nie gehört hatte. Das war
wirklich wundervoll.
Eines
Nachts, als Däumelinchen in ihrem schönen Bettchen lag, kam eine Kröte durch
eine zerbrochene Fensterscheibe hereingehüpft. Die Kröte war hässlich, groß und
nass. Sie hüpfte geradewegs auf den Tisch, wo Däumelinchen unter dem Rosenblatt
schlief. "Das wäre eine schöne Frau für meinen Sohn!", dachte die
Kröte. Sie nahm die Walnussschale, in der Däumelinchen schlief, und hüpfte
durch die zerbrochene Scheibe in den Garten zurück.
Am Ende
von dem Garten war ein großer, breiter Fluss. Aber das Ufer war feucht und
morastig. Hier wohnte die Kröte mit ihrem Sohne. Hu, der war genau so hässlich
wie seine Mutter. "Koax, koax, brekerekex!" Das war alles, was er
sagen konnte, als er das niedliche kleine Mädchen in der Walnussschale
erblickte.
"Sprich
nicht so laut, sonst wird sie wach", flüsterte die alte Kröte. "Sie
könnte uns noch entlaufen, denn sie ist so leicht wie ein Schwanenflaum! Wir
wollen sie in der Mitte des Flusses auf ein Seerosenblatt setzen. Dann hat sie
ihre eigene Insel und kann nicht davonlaufen, während wir unsere morastige
Stube instand setzen." Die alte Kröte nahm die Nussschale und brachte sie
hinaus auf das größte Seerosenblatt im Flusse.
Däumelinchen
erwachte am frühen Morgen und sah sich um. Da fing sie bitterlich an zu weinen,
denn überall war Wasser, und sie konnte gar nicht an Land kommen. Die alte
Kröte saß derweil am Ufer im Morast und putzte ihre Stube mit Schilf und gelben
Blumen aus. Es sollte ja recht hübsch für die neue Schwiegertochter werden.
Dann
schwamm die Kröte mit dem hässlichen Sohne zu dem Blatte, wo Däumelinchen
stand. Sie wollten ihr hübsches Bettchen holen, das schon im Brautgemach stehen
sollte, wenn Däumelinchen es selbst betrat. Die alte Kröte verneigte sich vor
ihr und sagte: "Hier siehst du meinen Sohn. Er wird dein Mann sein, und
ihr werdet prächtig dort unten im Moraste wohnen!" "Koax, koax,
brekerekex!" Das war alles, was der Sohn sagen konnte.
Dann
nahmen sie das niedliche, kleine Bett und schwammen zum Ufer zurück.
Däumelinchen aber saß ganz alleine und weinte, denn sie mochte nicht bei der
hässlichen Kröte wohnen und ihren Sohn zum Manne haben. Die kleinen Fische, die
unten im Wasser schwammen, hatten die Kröte wohl gesehen und auch gehört, was
sie sagte. Deshalb streckten sie die Köpfe empor, um das kleine Mädchen zu
sehen. Sie fanden es sehr niedlich und bedauerten, dass es zur hässlichen Kröte
ziehen sollte. Nein, das durfte nie geschehen! Sie versammelten sich unten im
Wasser rings um den Stängel, der das Seerosenblatt von Däumelinchen hielt. Dann
nagten sie gemeinsam den Stiel ab, und das Blatt schwamm den Fluss hinab, weit
weg, wo die Kröte nicht mehr hingelangen konnte.
Däumelinchen
segelte nun an vielen Städten vorbei, und die kleinen Vögel saßen in den Büschen
und sangen: "Welch liebliches, kleines Mädchen!" Das Blatt schwamm
immer weiter und weiter fort, und Däumelinchen reiste bis über die Grenzen des
Landes.
Ein
hübscher, weißer Schmetterling umflatterte sie stets und ließ sich zuletzt auf
das Blatt nieder. Jetzt konnte die Kröte Däumelinchen nicht mehr erreichen, und
die Sonne schien so schön auf das Wasser, das es wie pures Gold glänzte. Da
nahm Däumelinchen ihren Gürtel, band das eine Ende an den Schmetterling und das
andere an das Blatt. So ging die Fahrt nun viel schneller voran.
Bald
darauf kam ein großer Maikäfer geflogen. Der erblickte Däumelinchen, schlug
seine Klauen um ihren schlanken Leib und flog mit ihr auf einen Baum. Das grüne
Blatt schwamm weiter den Fluss hinab und der Schmetterling hing immer noch
daran, denn er war ja an das Blatt gebunden und konnte sich nicht selber
befreien. Betrübt schaute Däumelinchen dem schönen, weißen Schmetterling nach,
denn sie hätte ihn gerne befreit.
Darum
kümmerte sich der Maikäfer aber nicht. Er setzte sich mit ihr auf das größte
Blatt des Baumes und sagte, dass sie wahrhaft niedlich sei, obwohl sie einem
Maikäfer nicht sehr ähnlich sei. Später kamen auch die anderen Maikäfer herbei,
die im Baume wohnten. Sie betrachteten Däumelinchen, und eine Maikäferfrau
sagte: "Sie hat nur zwei Beine. Das sieht erbärmlich aus." "Und
sie hat auch keine Fühler!", sagte eine andere. "Sie ist in der Mitte
so schlank. Pfui, sie sieht ja wie ein Mensch aus!"
Und doch
war Däumelinchen so niedlich anzusehen. Das sagte jedenfalls der Maikäfer, der
sie geraubt hatte. Als die anderen aber immer wieder sagten, das kleine
Geschöpf sei hässlich, glaubte auch er es zuletzt und wollte sie nicht mehr
haben. Däumelinchen durfte gehen, wohin sie wollte.
Den ganzen
Sommer über lebte Däumelinchen nun alleine in dem großen Wald. Sie flocht sich
ein Bettchen aus Grashalmen und hing es unter einem Klettenblatt auf. So war
sie wenigstens vor dem Regen geschützt. Däumelinchen aß das Süße von den Blumen
und trank vom Tau, der jeden Morgen auf den Blättern lag. So vergingen Sommer
und Herbst.
Doch dann
kam der kalte, lange Winter. Alle Vögel, die so schön gesungen hatten, flogen
davon. Bäume und Blumen verdorrten, und das große Klettenblatt, unter dem sie
gewohnt hatte, schrumpfte zusammen. Es blieb nichts als ein gelber, verwelkter
Stängel zurück. Däumelinchen fror schrecklich, denn ihre Kleider waren entzwei.
Es fing an zu schneien, und jede Schneeflocke, die auf sie fiel, drückte sie zu
Boden.
Dicht vor
dem Walde, wohin sie nun gekommen war, lag ein großes Kornfeld. Das Korn war
schon lange abgeschnitten. Nur die nackten Stoppeln ragten noch aus der
gefrorenen Erde hervor. Für Däumelinchen waren sie wie ein großer Wald, den sie
durchwandern musste, und sie zitterte doch so vor Kälte!
Da
gelangte sie vor die Tür der Feldmaus, die ein kleines Loch unter den
Kornstoppeln hatte. Die Feldmaus wohnte warm und gut, hatte eine herrliche
Küche und eine Speisekammer voll Korn. Däumelinchen stellte sich in die Tür,
gerade wie jedes andere Bettelmädchen, und bat um ein kleines Stück
Gerstenkorn, denn sie hatte seit Tagen nichts gegessen
"Du
kleines Wesen!", rief die Feldmaus. "Komm herein in meine warme Stube
und iss mit mir! Du kannst auch den Winter über bei mir bleiben, aber du musst
meine Stube sauber und rein halten und mir Geschichten erzählen, denn das liebe
ich sehr."
Däumelinchen
tat, was die alte Feldmaus verlangte, und hatte es nun wirklich gut. Einige
Tage später sagte die Feldmaus: "Wir werden bald Besuch erhalten. Mein
Nachbar pflegt mich jede Woche zu besuchen. Er steht sich noch besser als ich,
hat große Säle und trägt einen schönen, schwarzen Samtpelz! Wenn du den zum
Manne nimmst, bist du gut versorgt. Da macht es dann auch nichts, dass er so
gut wie blind ist. Du musst ihm aber hübsche Geschichten erzählen, wenn er
kommt!"
Däumelinchen
wollte davon nichts wissen. Sie mochte den Nachbarn gar nicht haben, denn er
war ein Maulwurf. Der kam dann auch in seinem schwarzen Samtpelz zu Besuch. Er
war sehr gelehrt, aber die Sonne und die schönen Blumen mochte er nicht leiden.
Dafür hatte er nur schlechte Worte übrig, denn er hatte sie noch nie gesehen.
Von Däumelinchen wünschte er sich nun ein paar Lieder. Da sang sie
"Maikäfer flieg" und "Wer will unter die Soldaten". Der
Maulwurf hörte ihre schöne Stimme und war sogleich verliebt. Er sagte es aber
nicht, denn er war ein besonnener Herr.
Es war
noch nicht lange her, da hatte der Maulwurf einen langen Gang durch die Erde
gegraben, der von seinem Hause aus bis zur Unterkunft der Feldmaus führte. Die
Feldmaus und Däumelinchen bekamen nun die Erlaubnis, darin spazieren zu gehen,
soviel sie wollten. Aber sie sollten sich nicht vor dem toten Vogel fürchten,
der in dem Gange lag. Es war ein ganzer Vogel mit Federn und Schnabel, der erst
kürzlich gestorben und begraben worden war, gerade da, wo der Maulwurf seinen
Gang gemacht hatte.
Der
Maulwurf nahm nun ein Stück faules Holz ins Maul, denn das schimmert ja wie
Feuer im Dunkeln. Er ging voran und leuchtete auf dem Wege. Als sie zu dem
toten Vogel kamen, stemmte der Maulwurf seine breite Nase gegen die Decke und
stieß die Erde auf, sodass es ein großes Loch gab und das Licht
hindurchscheinen konnte. Mitten auf dem Fußboden lag eine tote Schwalbe. Die
schönen Flügel waren fest an die Seite gedrückt, und die Füße und der Kopf
unter die Federn gezogen. Der arme Vogel war sicher vor Kälte gestorben.
Das tat
Däumelinchen nun sehr Leid. Sie mochte all die kleinen Vögel, denn sie hatten
ja den ganzen Sommer über so schön gesungen und gezwitschert. Aber der Maulwurf
stieß den toten Vogel mit seinen kurzen Beinen und sagte: "Nun pfeift er
nicht mehr. Es muss doch erbärmlich sein, als Vogel geboren zu werden! Außer
seinem "Quivit" hat dieser Vogel ja nichts und muss im Winter sogar
verhungern!" "Ja", erwiderte die Feldmaus, "das ist
erbärmlich."
Däumelinchen
sagte gar nichts, aber als die beiden anderen sich umdrehten, ging sie zu dem
Vogel, schob die Federn beiseite und küsste ihn auf die geschlossenen Augen.
"Vielleicht war er es ja", dachte sie, "der so hübsch für mich
im Sommer gesungen hat." "Wie viel Freude hat er mir gegeben!"
Der
Maulwurf stopfte nun das große Erdloch zu und begleitete die anderen nach
Hause. Aber in der Nacht konnte Däumelinchen gar nicht schlafen. Da stand sie
auf und flocht aus Heu einen großen, schönen Teppich. Den trug sie zu dem
Vogel, breitete ihn aus und legte auch noch weiche Baumwolle darauf, die aus
der Stube der Feldmaus stammte. Dann rollte sie den toten Vogel auf den
Teppich, damit er in der kalten Erde warm liegen möge.
"Lebe
wohl, du schöner, kleiner Vogel", sagte Däumelinchen. "Lebe wohl und
habe Dank für deinen herrlichen Gesang!" Sie legte ein letztes Mal ihr
Haupt an die Brust des Vogels. Doch horche! - Es war gerade so, als ob das Herz
des Vogels wieder klopfte. Der Vogel war gar nicht tot, er lag nur betäubt da.
Jetzt, wo er auf dem warmen Teppich war, rührte sich wieder Leben in ihm.
Was war
nur geschehen? - Nun, im Herbst fliegen alle Schwalben in die warmen Länder
nach Süden. Verspätet sich aber eine, muss sie frieren, bis sie totengleich
niederfällt und liegen bleibt. Dann kann der kalte Schnee sie bedecken.
Däumelinchen
erschreckte sich sehr, denn der Vogel war ja viel größer als sie selbst.
Trotzdem legte sie die Baumwolle dichter um die Schwalbe, damit der Vogel es
noch angenehmer hatte. In der nächsten Nacht schlich sie sich wieder zu ihm
hin, da öffnete die Schwalbe kurz die Augen. "Ich danke dir, du kleines
Kind", sagte sie. "Die Wärme hat mir gut getan. Bald komme ich zu
Kräften und kann dann wieder draußen in der warmen Sonne umherfliegen!"
"Oh",
sagte Däumelinchen, "es schneit und friert noch da draußen. Bleib in
deinem warmen Bettchen, ich werde dich auch pflegen!" Sie brachte der
Schwalbe Wasser in einem Blumenblatt und fragte, was geschehen sei. Da erzählte
die Schwalbe, wie sie kurz vor dem Vogelzug eine Dornbusch mit dem Flügel
gestreift hatte. Sie sei zur Erde gestürzt und wüsste von da ab auch nicht, wie
sie unter die Erde gekommen war.
Den ganzen
Winter über blieb sie nun da unten. Däumelinchen pflegte sie und hatte sie lieb.
Weder der Maulwurf noch die Feldmaus erfuhren etwas davon, denn sie mochten die
arme Schwalbe ohnehin nicht leiden.
Sobald das
Frühjahr kam und die Sonne die Erde erwärmte, stieß die Schwalbe mit dem
Schnabel die Erde auf. Die Sonne schien herrlich zu ihnen herein, und die
Schwalbe fragte Däumelinchen, ob sie mitkommen wolle. "Nein, ich kann
nicht", sagte Däumelinchen, denn sie wollte die alte Feldmaus nicht
verlassen. "Dann lebe wohl, du gutes, niedliches Mädchen", sagte die
Schwalbe und flog hinaus in den Sonnenschein. Däumelinchen sah ihr nach, und
das Wasser trat ihr in die Augen, denn sie hatte die Schwalbe von Herzen gerne.
"Quivit, quivit!", sang der Vogel und flog zum grünen Wald davon.
Däumelinchen
war nun recht betrübt. Es war ihr untersagt, in den warmen Sonnenschein
hinauszugehen. Das Korn, das über dem Hause der Feldmaus gesät war, wuchs auch
schon hoch in die Luft empor. Es stand in dichten Reihen und war wie ein
dichter Wald für das arme, kleine Mädchen.
"Nun
solltest du aber deine Aussteuer für die Hochzeit nähen", sagte die
Feldmaus zu Däumelinchen. Der Maulwurf hatte nämlich um ihre Hand angehalten.
Däumelinchen musste auf der Spindel spinnen, und die Feldmaus mietete vier
Raupen, die Tag und Nacht für sie webten. Jeden Abend besuchten sie den
Maulwurf, und er sprach immerzu: "Wenn der Sommer vorbei sei, dann wollen
Hochzeit halten."
Däumelinchen
war darüber gar nicht erfreut, denn sie mochte den langweiligen Maulwurf nicht
leiden. Jeden Morgen, wenn die Sonne aufging, und jeden Abend, wenn sie
unterging, schlich sie zur Tür hinaus. Wenn dann der Wind durch die Kornähren
rauschte, konnte sie den blauen Himmel erblicken und dachte daran, wie hell und
schön es hier doch war. Und sie wünschte sich sehnlichst, die liebe Schwalbe
wiederzusehen.
Als es nun
Herbst wurde, hatte Däumelinchen ihre ganze Aussteuer beisammen. "In vier
Wochen ist die Hochzeit", sagte die Feldmaus. Aber Däumelinchen weinte nur
und sagte, sie wolle den langweiligen Maulwurf nicht haben.
"Schnickschnack!", rief die Feldmaus. "Sei nicht undankbar!
Außerdem hat der Maulwurf eine große Küche und einen vollen Keller. Was kann
man mehr erwarten?"
Nun sollte
also die Hochzeit sein. Der Maulwurf war schon gekommen, um Däumelinchen zu
holen. Sie sollte tief unter der Erde bei ihm wohnen. Das arme Kind war sehr
betrübt. "Lebe wohl, du helle Sonne!", rief Däumelinchen und lief
noch ein letztes Mal auf das Feld vor dem Hause der Feldmaus. Das Korn war
schon geerntet, und es standen nur noch Stoppeln da. "Lebe wohl!",
rief Däumelinchen und schlang ihre Arme um eine kleine rote Blume. "Grüße
die kleine Schwalbe von mir, wenn du sie zu sehen bekommst!"
"Quivit,
quivit!", ertönte es plötzlich über ihrem Kopfe. Sie sah empor, und es war
die kleine Schwalbe, die gerade vorbeikam. Däumelinchen erzählte ihr, wie
ungern sie den Maulwurf zum Manne nehmen wolle, und dass sie tief unter der
Erde wohnen solle, wo es keine Sonne gebe.
Da sagte
die kleine Schwalbe: "Nun, ich fliege bald fort in die warmen Länder.
Willst du mit mir kommen? Du kannst auf meinem Rücken sitzen! Binde dich mit
deinem Gürtel fest, dann fliegen wir in ein Land, wo Sommer ist und herrliche
Blumen blühen. Fliege nur mit, mein kleines Däumelinchen!" "Ja,
dieses Mal werde ich mit dir kommen!", sagte Däumelinchen fest
entschlossen, setzte sich auf den Rücken der Schwalbe und band sich fest.
Hui, wie
der Wind sauste die Schwalbe hoch in die Lüfte. Sie flog über Wälder und Seen,
und über die großen Berge, wo das ganze Jahr über Schnee liegt. Däumelinchen
fror in der kalten Luft, aber sie verkroch sich geschwind unter den warmen
Federn der Schwalbe und streckte nur den kleinen Kopf hervor, um all die
Schönheiten unter sich zu betrachten.
So kamen
sie dann auch glücklich in die warmen Länder. Dort schien die Sonne viel klarer
als hier. Der Himmel war zweimal so hoch, und an den Gräben und Hecken wuchsen
die schönsten Weintrauben. In den Wäldern hingen Zitronen und Apfelsinen, und
es duftete nach Myrte und Minze. Auf den Landstraßen liefen die niedlichsten
Kinder und spielten mit großen, bunten Schmetterlingen. Aber die Schwalbe flog
noch weiter, und es wurde schöner und schöner. An einem blauen See stand ein
weißes Marmorschloss aus alten Zeiten, das mit herrlich grünen Bäumen umstanden
war. Weinreben rankten sich an den hohen Marmorsäulen empor, und ganz oben
waren viele Schwalbennester. Dort wohnte auch die Schwalbe, die Däumelinchen
trug.
"Hier
ist meine zweite Heimat", sagte die Schwalbe zu Däumelinchen. "Aber
willst du dir nicht selbst eine prächtige Blume da unten suchen? Komm, ich werde
dich hinbringen, und du sollst es so gut und schön haben, wie du es dir
wünschst!" "Das ist herrlich!", sagte Däumelinchen und klatschte
vor Freude in die Hände.
Ganz in
der Nähe war auch eine große,
weiße Marmorsäule, die zu Boden gefallen und in
drei Stücke gesprungen war. Dazwischen wuchsen wundevolle weiße Blumen. Die
Schwalbe flog mit Däumelinchen hinunter und setzte sie auf ein Blatt.
Däumelinchen glaubte zu träumen. - Da saß ein kleiner Mann mitten auf der
Blume, so weiß und durchsichtig, als wäre er aus Glas. Er trug eine kleine
Goldkrone auf dem Kopfe und hatte herrlich klare Flügel an den Schultern. Er
war nicht größer als Däumelinchen, und er war der König der Blumenelfe, die
überall in den Blumen wohnten.
"Gott,
wie ist er schön", flüsterte Däumelinchen. Der kleine Prinz erschrak sehr
über die Schwalbe, denn sie erschien ihm wie ein Riesenvogel. Als er aber
Däumelinchen erblickte, war er sehr entzückt. Sie war das schönste Mädchen, das
er je gesehen hatte, darum nahm er seine Goldkrone vom Haupte und setzte sie
ihr auf. Dann fragte er, wie sie heiße und ob sie seine Frau werden wolle. Ja,
das war ein anderer Mann als der Sohn der Kröte oder der Maulwurf. Däumelinchen
überlegte nicht lange und gab dem herrlichen Prinzen ihre Hand.
Nun kamen
alle Elfen aus den Blumen, egal ob Mann oder Frau, und sie brachten
Däumelinchen schöne Geschenke. Das Beste waren aber die Flügel von einer
großen, weißen Fliege. Sie wurden Däumelinchen am Rücken befestigt, worauf sie
von Blume zu Blume fliegen konnte.
"Von
nun an sollst du nicht mehr Däumelinchen heißen!", sagte der Blumenelf zu
ihr. "Wir wollen dich Maja nennen." Da gab es viel Freude, und die
Schwalbe saß oben in ihrem Neste und sang, so gut sie es eben konnte. Aber im
Herzen war sie doch betrübt, denn sie wäre gerne mit Däumelinchen zusammen
geblieben.
"Lebe
wohl, lebe wohl!", rief die kleine Schwalbe bald und machte sich wieder
auf die lange Reise. Denn es war Zeit für die andere Heimat, weiter oben im
Norden. Dort hatte die Schwalbe auch ein kleines Nest, und zwar mitten über dem
Fenster, wo der Mann wohnt, der die schönsten Märchen erzählt.
wird fortgesetzt
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