Sonntag, 8. März 2015

Im Elysium

Machwerk R.W. Aristoquakes
Teil 31 - 132
- Im Elysium -

Aphrodite, des Hephaistos Braut,
Inzwischen schon lang mit ihr vermäht,
Mit Fröschen gut vertraut,
Hat von Frau Doktor Ursula Brauer,
Die kannte den Typ wohl einst genauer,
Noch eine Mär vom ihm erzählt.


NOCH EIN MÄRCHEN VOM FROSCHKÖNIG


Noch ehe die Teichrosenblätter sich aus dem winterklaren Wasser heraufrollen an die Oberfläche, kommen die Frösche. Immer kehren sie zum Laichen dahin zurück, wo sie selbst einst entstanden sind, wenn nicht der Mensch sich herausnimmt, Jungfrösche an einem weit entfernten See oder Teich oder Fluss einzusammeln und in seinen Garten zu tragen. Aber natürlich kommen die Urahnen aller Gartenteich - Frosch - Populationen von irgendwo daher.
Immer sind es zuerst nur zwei oder drei oder vier Frösche, die ihre Köpfchen aus dem noch märzkalten Wasser heben. Der Mensch, der seinen Garten durchstreift und vorfrühlingshafte Veränderungen nach langer Winterstarre der Natur sucht, nimmt sie nur wahr, wenn er genau hinsieht. Aber er sieht so genau hin, wie er es vermag, denn er hat ja den Gang durch seinen Garten angetreten, um Neues zu entdecken. 
Am meisten hat immer meine Schwester gesehen. Die Schneeglöckchen hatte sie längst schon entdeckt, als sie nichts als kleine grüne Punkte waren, Krokusse zeigten sich ihr deutlich, vielleicht schon Spitzen von Tulpen und Osterglocken, die sich von unten durch das liegen gebliebene Laub durchbohrt hatten. Und wenn der Mensch genau horcht, vernimmt er leises Gequake. Auch das hörte meine Schwester immer zuerst. Es wird lauter, je mehr Frösche auftauchen und ihre weißen Kehlsäcke aufblasen. Dann sieht der beobachtende Mensch viele von ihnen das Tier mit den zwei Rücken bilden und weiß: Sehr bald wird er die ersten Klumpen Laich finden, Ballen von zusammenhängenden Gallertkugeln, einigen Hunderten, mit jeweils genau in der Mitte einem kleinen schwarzen Punkt. Für die Frösche war's das schon. Sie treiben keinerlei Brutpflege und wandern bald wieder ab. Nur die Jährlinge tauchen dann und wann auf, etwa zwei Zentimeter groß. Sie sind noch in der Nähe geblieben.
Die schwarzen Punkte in den Gallertkugeln verändern sich schnell, wachsen, krümmen sich, bilden die Andeutung eines Kopfes aus und einen Schwanz. Nach weniger als drei Wochen beginnt das Gallert sich aufzulösen, und in seiner Mitte sammelt sich ein schwarzes Gewimmel von Kaulquappen. Doch nicht lange, dann rudert jede Quappe allein durchs Wasser.




Auf der Oberfläche des Wassers liegen inzwischen die ersten Teichrosenblätter, von so reinem Grün, wie eine frisch aus der Schale gesprungene Kastanie ein reines Braun zeigt. Noch gibt es keine Läuse und keine verrottenden gelben Stellen an den Blättern, und die Spitzen der ersten Knospen sind zu erkennen und wachsen zur Wasseroberfläche herauf. Da werden sie dann wächsern weiß oder rosa oder rot liegen wie Kunstblumen und ihre Blätter nur entfalten, wenn sie die Sonne aufnehmen können.

Die meisten Kaulquappen erreichen nicht einmal das Stadium, in dem ihnen die Hinterbeine wachsen. Selbst wenn sie nicht von Fischen verschluckt werden oder von fischenden Reihern oder manchmal von durchreisenden fischenden Störchen, überleben sie nicht, und ihre winzigen Leichen sinken auf den Grund des Teiches. Manche stranden auch in kleinen Wassermulden auf den Teichrosenblättern, und der Gartenteichfreund kann sie retten oder es lassen und sich sagen, dass es ihrer Tausende ja ohnehin nach der Ökonomie der Natur nur gibt, weil wenige das Erwachsenenalter der Frösche erreichen werden.



Die sind unter denen zu finden, die es schaffen, das Wasser als alleiniges Lebenselement zu verlassen. Sie haben dann ihren Schwanz abgeworfen und hüpfen auf vier Beinen über den nassen Rasen. Auch in diesem Stadium ist ihr Leben alles andere als sicher. Der Rasenmäher kann sie erfassen oder wiederum der Reiher, der sich beuteträchtige Plätze gut merkt. Welcher Jungfrosch aber seinen ersten Frühling und Sommer und Herbst überlebt und dann noch einen sicheren Platz zum Überwintern findet, der hat gute Chancen, wegzuwandern, nicht allzu weit zuerst, und wiederzukommen und eines Tages als ausgewachsener Frosch auf einem Teichrosenblatt zu sitzen.


So etwa spielt sich das Leben der Gartenteichfrösche offensichtlich ab. So kann es der aufmerksame Mensch beobachten. Aber die Frösche haben noch ein geheimeres Leben, wie die Märchenerzähler immer wussten.


Davon habe ich schon als Kind etwas erfahren. Ein wenig kann es ahnen, wer sich einmal mit dem Gesicht aufs Wasser eines Teiches legt. Der sieht nicht nur die Wasserläufer auf der Oberfläche und die Wasserschnecken, die unter ihr hängen, sondern auch die Käfer, die mit froschähnlichen Bewegungen im Wasser schwimmen, er sieht eine ganze Unter - Wasser - Wunder - Welt. Wenn aber ein Kind, das eine besondere Botschaft erhalten hat, den Kopf so lange ins Wasser getaucht hält, bis es glaubt, es nicht mehr aushalten zu können, dann kann es zum Unter - Wasser - Atmer werden und kann mit den Tieren und Pflanzen sprechen. Aber das gelingt nur, wenn es das glaubt, weil ein anderes Kind ihm das gesagt hat.


Nicht alle Frösche wandern nach dem Laichen wieder ab, sondern manchmal bleibt einer zurück. Wer da bleibt, Frosch oder Fröschin, hat sich entschieden, dass er ein Froschkönig werden will oder sie eine Froschkönigin, und das ganze Köpfchen glänzt dann golden. Sehen kann das aber nur das Kind, das darauf vertraut hat, es werde im Wasser atmen können. Diese Fähigkeit kann es sein Leben lang behalten, kann sie aber nur ausüben, wenn es allein ist. Noch als Kind muss es einem anderen Kind das Geheimnis weitersagen und nur einem, und es darf das erst dann tun, wenn es zwölf Jahre alt geworden ist. Wenn es sich daran nicht hält, so verliert es die Gabe, im Wasser zu atmen und die Sprache der Tiere und der Pflanzen zu verstehen und den Froschkönig zu sehen und mehr noch: überhaupt anderes zu sehen als die Oberfläche der Dinge. Doch gibt es in der Nähe fast aller Laichplätze der Frösche Kinder, die ihre Sprache verstehen, und auch Erwachsene. Die Kinder haben es natürlich leichter damit als die Erwachsenen, denn sie können noch an so etwas glauben wie: Du wirst im Wasser atmen können und die Sprachen der Natur verstehen und den Froschkönig sehen. Einfach ist das freilich auch für die Kinder nicht. Beide, Kinder und Erwachsene, dürfen aber nur miteinander darüber sprechen, also mit den anderen, die in das Geheimnis eingeweiht sind, und mit dem einen oder der einen, dem sie es weitersagen. Sie erkennen sich an einem winzigen goldenen Fleck im rechten Auge.


Mir hatte es ein Nachbarsjunge gesagt, ein Raubein, das ich vom Kindergarten her kannte und dem ich deshalb zuerst solche Märchenverheißung überhaupt nicht glauben wollte. Aber über den Fleck in seinem Auge hatte ich mich schon eine Weile gewundert, und auf dieses Zeichen hin wollte ich sie doch prüfen, diese seltsame Verheißung. Zum Glück hieß ja die Vorschrift, dass ich allein sein sollte dabei. Ich stellte mir vor, wie er sonst mich auslachen würde, Marco das Raubein, wenn ich mit Mühe den Atem anhielte und am Ende doch außerhalb des Wassers weiteratmen müsste, und wie er dann überall herumerzählen würde, was für eine dumme Märchenpute ich wäre und wie ich auf sein blödes Gerede hereingefallen sei. Damals war ich elf.


Ich legte mich in der beginnenden Dämmerung eines Abends zu Anfang April an unseren Gartenteich, tauchte vorsichtig den Kopf ins Wasser, hielt die Luft an und hoffte nur, dass niemand mich sah, vor allem nicht die neugierige Nachbarin zur Linken. Doch längst ehe der erwartete Erstickungsanfall sich einstellte, atmete ich ruhig im Wasser, das sich gar nicht mehr kalt anfühlte, konnte die Augen offen halten und sah, dass ein Froschkönig den ganzen Teich mit goldenen Strahlen erhellte, die von seinem Kopf ausgingen, und ich wusste, dass einer mich getroffen hatte und dass ich nun einen kleinen goldenen Fleck im rechten Auge trug.



"Sei willkommen", sagte der Froschkönig, "sei willkommen unter denen, die sehen und die hören können und die Sprachen der Natur verstehen. Wenn du diese Gabe so weitergibst, wie du sie bekommen hast, wirst du sie lebenslang behalten. Das weißt du ja schon. Nun aber frage mich, was du noch wissen möchtest."


"Warum", fragte ich, "gibt es dich überhaupt, einen Froschkönig?"


"Das zu beantworten ist nicht schwer und doch sehr schwer. Was leicht zu erklären ist, das ist dies: Wenn im Frühjahr alle Frösche zusammengekommen sind, die von einem Laichplatz stammen, suchen sie eine oder einen, der auf die Brut aufpasst, einen König. Es stimmt nämlich nicht, dass wir uns nicht um sie kümmern. Wer Froschkönig wird oder Froschkönigin, der bekommt den goldenen Glanz auf dem Kopf, den du jetzt an mir sehen kannst und den nur wenige Menschenkinder sehen dürfen, und damit kann er Tiere blenden, die von außen im Wasser Beute suchen, Reiher zum Beispiel. Bei Fischen allerdings wirkt dies Mittel nicht, weil sie immer im Wasser sind, so wie es auch die Kaulquappen aus demselben Grund nicht schützen kann. Schützen kann es nur die ganz jungen Frösche, die sich anschicken, das Wasser zu verlassen. Ihnen beleuchten wir den Weg hinaus. Doch gibt es nicht in jedem Jahr in jedem Teich einen Froschkönig.


Denn nachdem alle jungen Frösche abgewandert sind, auch wenn sie ja zunächst noch in der Nähe bleiben, müssen wir unser Leben aufs Spiel setzen. Und das ist das, was schwer zu erklären ist. Diese Bedingung erfahren wir aber von einem Froschkönig, der von einem anderen Teich kommt. Jeder Frosch kann sich also entscheiden, ob er Froschkönig werden will oder nicht.


Im Allgemeinen wissen die Tiere und Pflanzen ja nicht, dass sie sterben müssen. Es gibt aber unter allen Tierarten immer einige einzelne, die wissen davon. Bei den Fröschen erhalten diese Gabe die, die sich entschließen, König oder Königin zu werden, und im gleichen Augenblick bekommen zu diesem Wissen den goldenen Glanz. Und manchen von uns gelingt es, einigen Menschen zu sagen, dass das Sterben, von dem sie wissen und das sie bisher gefürchtet haben, zum Leben gehört und dass sie es nicht fürchten müssen. Diese Menschen dürfen dann zwar niemandem sagen, woher sie das Wissen haben, aber sie erlangen eine Gelassenheit, die sie weitergeben an andere Menschen. Und so versuchen wir ihnen zu helfen, wir, die Froschkönige, die schwerste Last zu tragen, die das Bewusstsein ihnen auferlegt. Wir müssen dazu einen erwachsenen Menschen auf uns aufmerksam machen - nicht das Kind, das unsere Sprache verstehen kann, denn es weiß ja schon alles -, und dieser Mensch bestimmt dann über unser Leben, und wir, wenn er es zulässt, über seins."


"Das verstehe ich nicht. Wie soll denn das gehen?


Der Froschkönig kam jetzt aus dem Teich heraus, ehe er weiter sprach, und setzte sich auf einen flachen Stein. Ich trocknete mein Gesicht ein wenig mit den Händen und legte mich ihm gegenüber bäuchlings ins Gras.


"Nun", fuhr er fort, "du kanntest das Märchen vom Froschkönig. Sonst wärest du gar nicht zu mir an den Teich gekommen, nachdem der wilde Junge dir etwas so Sonderbares erzählt hat: dass es uns geben sollte. Jemand hat dir das Märchen schon früher erzählt, als du noch kleiner warst. Viele Erwachsene kennen es, aber sie glauben es nicht. Ich aber möchte, dass einige wenige, Menschen oder Menschinnen, es glauben, und dass ich ihnen etwas von dem einfachen Vertrauen geben kann, das die Wesen der Natur darin haben, es sei mit ihrem Leben schon richtig.


Ich hüpfe also einem Menschen zum Beispiel auf die Hand oder auf den Fuß, wenn er barfuß ist; oder sogar, wenn er im Gras liegt und wenn ich ganz kess bin, auf den Bauch oder in den Nacken. Wahrscheinlich erschrickt er sich, weil ich kalt und nass bin, und schüttelt mich ab. Ich muss also wiederkommen und ihm klar machen, dass es kein Zufall war, dass ich auf ihn gehüpft bin; dass ich ihm etwas mitteilen will. Ich klopfe ihn dann mit einem Fuß so lange, bis er das hoffentlich merkt, auch wenn er mich inzwischen noch ein paar Mal weggeschleudert hat. Dabei sterbe ich wahrscheinlich noch nicht, aber der Mensch geht vielleicht in sein Haus, weil er sich ekelt, und ich muss an einem anderen Tag mit ihm dasselbe noch einmal versuchen. Ich muss eben möglichst erreichen, dass der Mensch es merkt, den ich mir ausgesucht habe, dass ich etwas von ihm will, denn ich darf es an jedem Teich nur bei einem versuchen. Und außerdem muss ihm ja das Märchen vom Froschkönig einfallen. Nur wenn ihm das eingefallen ist, kann er überhaupt daran denken, ob er nun etwa aus einer Froschkönigin eine Prinzessin oder aus einem Froschkönig einen Prinzen machen soll. Ich werde es merken, wenn ihm das Märchen eingefallen ist. In diesem Augenblick erscheint der goldene Fleck in seinem Auge. Und dann wird er auch daran denken, dass das Märchen sagt, der Froschkönig sei früher einmal selbst ein Mensch gewesen. Das stimmt aber nicht. Doch kann er ein Mensch werden.


Wenn mein Mensch erst lange darüber nachdenkt, was er denn aber mit einem neuen Menschen machen soll, der auf solche Weise entsteht, dann ist das Spiel aus für mich. Er wird ganz vernünftig sein, wird mich auf die Erde setzen oder auch irgendwohin werfen, und danach bin ich wieder ein Frosch wie alle anderen Frösche. Oder doch beinahe, und das wird dann ein schweres Froschleben sein. Denn ich werde die Stimmen der Natur nicht mehr hören, aber das Wissen von der Sterblichkeit behalten. Davor habe ich etwas Angst.

Wenn mein Mensch aber eine kindliche Seele bewahrt hat und sie manchmal in sich aufrufen kann, wenn er einfach dem Märchen vertraut, so wie er es kennt, und mich mit aller Kraft gegen einen großen Stein oder gegen einen Baumstamm wirft, ja, dann - werde ich trotzdem noch nicht unbedingt ein Mensch, sondern nur, wenn er es will. Ich weiß es, ob er es will. Wenn nicht, mache ich ihm keine weitere Mühe und sterbe bei dem Aufprall auf den Stein oder an dem Baum. Das ist dann auch gut. Ich habe dir ja gesagt: Ich setze mein Leben aufs Spiel. Aber der Mensch, der dem Märchen geglaubt hat, wird in jedem Fall wie du, ob ich nun ein Mensch geworden bin oder nicht, von da an die Sprachen der Natur verstehen. Er wird dabei, wie du es kennst, nicht alle ihre Sprachen gleichzeitig und durcheinander hören, denn das wäre ja gar nicht auszuhalten, sondern er wird immer nur die eine Stimme hören, auf die er sich mit ganzer Kraft konzentriert, und er wird dieser Stimme auch antworten können. Und wie du wird er diese Fähigkeit sein Leben lang behalten. Und eine solche Stimme, eine innere, meine ich, kann auch die eines Menschen sein, aber nur die eines Menschen, der das Geheimnis kennt."


"Es gibt also deshalb nicht jedes Jahr in jedem Teich einen Froschkönig oder eine Froschkönigin, weil sie dabei sterben können, wenn sie einen Menschen ein Geheimnis der Natur zu lehren versuchen? Und weil sie auch wissen, dass sie zwar bei dem Spiel überleben können, aber dann die Sterbensangst behalten, ohne weiter die Stimmen der Natur zu hören?"


"Ja, deshalb nicht. Manche, die einmal Könige gewesen sind, aber sich keinem Menschen verständlich machen konnten, hüpfen weite Wege, um das Königsgeheimnis der Frösche weiterzusagen. Aber natürlich kann es vorkommen, dass es Laichplätze gibt, die über viele Jahre hin keinen König oder keine Königin haben, einfach deshalb, weil die Frösche dort gar nicht erfahren, was das ist, oder aber, weil sie es erfahren und gerade deshalb nicht Froschkönig werden wollen. Und dann erfährt auch kein Kind das Geheimnis der Sprachen der Natur und kein Erwachsener, und es erfährt also auch niemand, dass er vor dem Tod keine Angst haben muss."



Das verstand ich damals nicht ganz. Aber ich fragte: "Wem willst du das Geheimnis weitersagen, Froschkönig?"


"Ich habe daran gedacht, es deiner großen Schwester zu sagen. Ich sehe sie oft im Garten."

"Ja, und sie hat im vorigen Jahr oft über das Sterben nachgedacht, denn da war sie lange krank. Aber sie ist wieder ganz gesund. Sie liebt die Natur sehr. Jetzt im Vorfrühling geht sie jeden Nachmittag durch den Garten, um zu sehen, was sich verändert hat. Sie sieht am genauesten hin. Aber das weißt du ja sicher. Die Schneeglöckchen seien natürlich schon längst verblüht, sagte sie gestern beim Abendessen, auch die Märzbecher, aber die Primeln, die dann so herrlich blau - lila blühen, Pompon-Primeln nennt sie sie, die streckten jetzt ihre ersten Blätter heraus, und die Krokusse, die blühen schon fast, und die Osterglocken und die Pfingstrosen und die Tränenden Herzen haben grüne Triebe."


"Du weißt ja alle diese Namen!"


"Ja, aber erst jetzt, erst in diesem Jahr. Uns hat das sonst eigentlich nicht besonders interessiert, meinen Vater und mich gar nicht, wie die einzelnen Pflanzen im Garten heißen, und meine Mutter kann zwar alle Pflanzen unterscheiden und hat sie auch gepflanzt, aber sie vergisst manche Namen auch wieder. Und wir haben meistens nicht einmal richtig zugehört, wenn meine Schwester von ihnen erzählt hat, als würde sie sie gut kennen und noch anders als nur mit den Namen aus dem Gartenkatalog; Erst jetzt eben hören wir ihr wirklich zu, nachdem sie so krank war. Und die Tiere im Garten kennt sie auch und weiß zum Beispiel, wo ein Igel überwintert und dass man ihn da in Ruhe lassen muss."


"Deine Schwester kennt das Märchen vom Froschkönig, nicht wahr?"


"Ja, sie hat es mir früher selber vorgelesen. Auch eine Verfremdung davon oder wie das heißt. So was machten sie damals gerade in der Schule. Diese 'Verfremdung', die mochte ich gar nicht. Aber das alles weißt du doch, Froschkönig."


"Natürlich. Doch ich möchte mit dir darüber sprechen. Ich möchte einfach sprechen, verstehst du? Es ist ja ganz selten, dass ich das so tun kann wie jetzt mit dir. Was glaubst du also? Wird deine Schwester es verstehen, dass ich ihr etwas mitteilen will? Und du, wirst du es denn aushalten, wenn deine Schwester vielleicht mich zum Menschen macht und mit mir weggeht? Denn was in der Zukunft sein wird, das wissen wir ja beide nicht."


"Wie ich das aushalte, das weiß ich noch nicht, denn ich habe meine Schwester sehr lieb. Aber du hast doch gesagt, Froschkönig, dass ich mit ihr in Verbindung bleiben kann, denn wir werden ja einander in unseren Gedanken verstehen. Ich wünsche ihr, dass sie keine Angst mehr zu haben braucht vor dem Sterben wie manchmal in ihrer langen Krankheit. Das ist wichtiger als alles andere.


Und bestimmt wird sie wissen, dass sie dich werfen soll. Was sie aber tun wird, das kann ich dir nicht sagen. Nur dass sie dich streicheln wird, denn eklig findet sie dich nicht. Ganz zart wird sie dich mit einem Finger streicheln, denn du bist ja klein, und sie wird dir nicht weh tun wollen. Und wenn sie dann vernünftig ist, wird sie dir vielleicht sagen - ja, denn sie wird sprechen zu dir, obwohl sie ja noch nicht weiß, dass du sie verstehen kannst: 'Du siehst aus wie der Frosch im Märchen. Und du willst, dass ich mit dir umgehe wie die Prinzessin im Märchen. Aber was soll ich denn mit einem Märchenprinzen anfangen oder mit einer Märchenprinzessin? Ich sehne mich sehr nach einem Freund, das ist wahr. Vielleicht weißt du das sogar. Aber einen Märchenprinzen will ich nicht, ich sag's dir noch mal. Lass es gut sein, du Froschkönig oder du Froschkönigin, und hüpfe weiter deine Froschwege.' Und dann wird sie dich behutsam auf den Rasen setzen oder auf ein Teichrosenblatt und wird wohl warten, bis du mit einem Froschsprung ins Wasser tauchst.


Wenn es sie aber ganz erreicht, was du von ihr willst, dann wird sie nicht vernünftig sein, dann wird sie zu dir sagen: 'Ich sehe den goldenen Glanz auf deinem Kopf. Ich werde dich werfen, Frosch, mit aller Kraft, und mein Herz mit über die Hürde. Hier an den Stamm dieser geliebten hohen Buche werde ich dich werfen. Und dann wird sich zeigen, ob du danach tot am Boden liegst, oder wer mir gegenüber steht.' Sie wird das Märchen ganz wörtlich nehmen, wenn sie es überhaupt ernst nimmt."


"So wie du mir von ihr erzählst, Kind, so würde ich gern mit deiner Schwester zusammen Mensch sein. Aber ich habe jetzt doch Angst. Ich bin nicht so gelassen, wie ich sein sollte und wie ich es die Menschen lehren möchte. Wenn mich deine Schwester nämlich nicht verwandelt, wenn sie also vernünftig ist, werde ich ja wieder ein gewöhnlicher Frosch sein, das habe ich dir schon gesagt, ein Frosch, der die Stimmen der Natur nicht mehr hört und ihren Trost nicht, der nicht mehr zu Menschenkindern sprechen darf, der die Liebe nicht kennen lernen wird, der aber das Wissen vom Sterben nicht wieder vergessen kann. Wenn es so ausgeht mit deiner Schwester, darf ich dann in deiner Nähe bleiben? Wirst du manchmal deine Hand in den Teich halten? Dann werde ich zu dir kommen und mich in deine warme Hand schmiegen, und das wird mein Trost sein. - Und vergiss nicht, in einem Jahr einem anderen Kind von den Froschkönigen zu erzählen. Denn das ist wichtiger als alles, wichtiger auch als meine kleine Angst. Willst du das tun, beides?"


Das habe ich versprochen, damals am Teich, und ich habe es gehalten.
Der Frosch sprang ins Wasser, und ich stand auf und ging ins Haus. Es war dämmerig geworden während dieses Gesprächs, und ich war sehr froh, dass niemand mich bisher gerufen hatte. Ich war aber vor allem sehr traurig, denn meine Schwester würde ja vielleicht bald nicht mehr da sein. Doch ich wusste auch, dass ich es richtig gemacht hatte, als ich dem Froschkönig von ihr erzählte, der durch sie vielleicht ein Mensch werden würde. Sagen durfte ich ihr trotzdem nichts, so war es abgemacht.


Am folgenden Nachmittag, als ich vom Flötenunterricht kam, war meine Schwester nicht da. Mittags hatten wir noch zusammen gegessen. In meinem Zimmer lag ein Zettel:

"Ich habe nicht gewusst, dass die alten Kindermärchen doch wahr sind. Ich musste fortgehen. Du, meine geliebte kleine Schwester, du weißt, was geschehen ist. Du wirst mich verstehen, und wir werden uns wieder sehen, und du wirst die Eltern trösten, ohne unser Geheimnis zu verraten. Das wird sehr schwer sein für dich, ein Kind, aber du wirst es können, darauf vertraue ich. Und nach einer Zeit werde ich wiederkommen, werden wir beide wiederkommen. Inzwischen, das weißt du, kannst du mich erreichen, wenn du ganz fest an mich denkst. Tröste also die Eltern, so gut es möglich ist. Und geh' heute Abend zum Teich und halte eine Hand hinein."


Das tat ich. Kein Frosch kam, um sich hineinzuschmiegen. Da weinte ich und war zugleich getröstet und glaubte es, dass meine Schwester dem Märchen geglaubt hatte.

Und an meinem zwölften Geburtstag erzählte ich das Geheimnis einem Jungen, den ich sehr bewunderte. Er lachte mich aus. Aber am nächsten Tag lächelte er mir zu, und ich sah den goldenen Fleck in seinem rechten Auge.



Quelle: E-Mail-Zusendung von Ursula Brauer aus Hamburg, 28. Dezember 2002.


***

wird fortgesetzt


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Zur Einstimmung

Bei dem hier unter dem Pseudonym R.W. Aristoquakes virtuell zur Veröffentlichung gebrachten, mehr als einhundertfünfzigtausend Doppelverszeilen umfassenden und mit über 15.000 Zeichnungen versehenen Epos handelt es sich um die umfangreichste Nacherzählung des Homer zugeschriebenen Kriegsberichtes, die jemals niedergeschrieben wurde und nach Auffassung des Autors, um das wichtigste literarische Werk der Neuzeit überhaupt.

Unter dem oben abgedruckten Titel veröffentlicht der noch unbekannte Schriftsteller an dieser Stelle in den nächsten fünf Jahren sein als Fortsetzungeerzählung entstandenes Mammutmachwerk über den antiken Tierkrieg und dessen Folgen für die Menschheit.

Das über zweitausend Jahre alte homerische Epillion, das im Original nur etwa 300 Verszeilen umfasst, wurde von R.W. A., der zehn Jahre lang daran gearbeitet hat, zu einem Mammutwerk aufgebläht, das die Batrachomyomachia mit der Ilias und der Bibel verbindet.

Diese Verknüpfung der drei wichtigsten Werke der abendländischen Literatur, die in etwa zur gleichen Zeit entstanden sind, dient dem Autor dazu, seine religionsgeschichtliche These zu untermauern, in der er den Frosch als Ursprungsgottheit darstellt und behauptet, dass die Götter der Neuzeit nichts anderes sind als die konsequente Weiterentwicklung der ägyptischen Froschgötter.